Wie in unserem letzten Artikel versprochen, möchten wir die wichtigsten Fragen und Bedenken, die in der letzten Woche aufgekommen sind, beantworten. Los geht‘s!
1. Warum fordern ihr eine Entschädigung?
Viele Leute haben es begrüßt, dass wir die Arbeitsbedingungen in Gagarin öffentlich thematisiert haben, waren aber eher zurückhaltend, was die Entschädigung angeht. Wir möchten betonen, dass wir nicht an einer öffentlichen Statement-Auseinandersetzung interessiert sind, sondern an einer echten materiellen Veränderung zugunsten des Lebens unserer Gewerkschaftsmitglieder und aller Arbeiter_innen. Darüber hinaus haben uns die Bemühungen unseres Gewerkschaftsmitglieds, das dort zweieinhalb Jahre lang gearbeitet und einen internen Prozess in Gang gesetzt hat, der die Situation zwar ein wenig verändert hat, aber nicht in der Lage war, das Problem – die Ausbeutung – an der Wurzel zu packen, noch mehr davon überzeugt, dass in diesem Fall weitere Schritte erforderlich sind. Außerdem mag der Betrag, den wir für unsere Genossin fordern, einigen hoch erscheinen. Er liegt jedoch in der lächerlichen Größenordnung von 167 Euro, umgelegt auf die Monate, die sie dort gearbeitet hat. Dies ist das absolute Minimum, bezahlter Urlaub, 13. + 14.Gehalt, Krankenstand.
2. Profitiert jemand vom Gagarin? Wie wirkt sich die Entschädigung auf die anderen dort Arbeitenden aus?
Abgesehen von einigen Privilegien, die Kollektivmitglieder genießen, z. B. die Wahl der Schichten vor den anderen Arbeiter_innen oder die Übernahme von bezahlten Zusatzaufgaben, profitiert niemand finanziell von Gagarin. Da sie jedoch de facto die Chefs von Gagarin sind, was die Entscheidungsfindungen betrifft, profitieren sie von der Macht über den Ort und über andere Arbeiter_innen, sowie von ihrem Status in der größeren linken Szene Wiens. In diesem Zusammenhang hoffen wir, dass andere Springer_innen des Gagarin, sowie andere Arbeiter_innen in der Gastronomie, motiviert werden, ihre Minimalrechte zu verstehen und zu erkennen, wie ermächtigend Selbstorganisation ist.
3. Meine Freundin „Patrizia Müller“ hat dort gearbeitet, und sie hat weder Sexismus noch Rassismus erlebt. Wie ist das möglich?
Wenn die interne Arbeitsteilung und die Arbeitsstrukturen des Cafés strukturell sexistisch (Aufgabenaufteilung entlang der Geschlechterrollen, die Frauen dazu zwingt, den Großteil der unsichtbaren Arbeit zu verrichten) und rassistisch (Trennung von österreichischem/deutschem Kollektiv und migrantischen Springer_innen) sind – dann ist es eigentlich egal, was deine Freundin „Patrizia“ persönlich darüber denkt. Darüber hinaus gab es im Gagarin keine Verantwortungsübernahme wegen sexistischem und anti osteuropäisch-rassistischem Verhalten, das unsere Genossin erlebt hat und das „Patrizia“ vielleicht miterlebt hat oder auch nicht. Auch ein Pro-Tipp: Das Zitieren der Meinung einer anderen marginalisierten Freundin löscht niemals die Erfahrung einer Person aus. Und abschließend noch einmal: Es geht hier nicht um das in Wien übliche Spiel, einzelne Personen zu identifizieren und auszugrenzen, sondern um strukturelles Versagen in einem Betrieb mit mehreren Arbeitsplätzen.
4. Warum habt ihr das Gagarin ins Visier genommen und nicht ein anderes Lokal?
Wir haben uns diesen Kampf nicht ausgesucht! Wir machen keinen „Aktivismus“ oder suchen uns Betätigungsfelder, sondern wir kämpfen mit unseren Mitgliedern dort, wo sie ausgebeutet werden, um ihre Situation real zu verbessern. Ja, die Bedingungen bei McDonald’s sind auch schlecht (aber eigentlich gesetzlich korrekter als beim Gagarin), aber wir werden dort nur aktiv, wenn sich unsere Mitglieder dort organisieren. Es ist wirklich eine Schande, dass wir das erklären müssen.
Übrigens, nächsten Sonntag gibt es die Möglichkeit, einen Kampf von zwei GenossInnen im kapitalistischen Café Le Firin fünf Blocks vom Gagarin entfernt zu unterstützen!
5. Ich habe gehört, dass die Arbeitsbedingungen für alle durchschaubar waren, und jeder hat sich entschieden, dort unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Warum beschwert ihr euch dann?
„Wenn es dir nicht gefällt, dann geh doch einfach“ – das scheint sehr einfach zu sein. Letztlich geht es um deine individuelle Entscheidung. Dies ist jedoch reine neoliberale Chef-Logik und berücksichtigt nicht die Zwänge, denen Lohnarbeitende, insbesondere Migrant_innen, ausgesetzt sind, wenn sie ihren Job aufgeben. Dies sollte kein ernstzunehmendes Argument im Kontext von Arbeitskämpfen sein, das von jemandem kommt, der sich auch nur vage als links definiert.
Das Gagarin muss erkennen, dass – mit welchen internen Konstruktionen auch immer – die Grundlagen der von der Arbeiterklasse erkämpften (bürgerlichen) Mindeststandards nicht untergraben werden dürfen! Das ist ein Prinzip jeder Bemühung, die ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse zu verbessern. Doch im Gagarin werden diese einfach negiert. Gepaart mit der anscheinend wirklich vorhandenen Unwissenheit darüber, was Arbeitsrechte eigentlich sind, ist die Sache brandgefährlich. Keine Bezahlung im Krankheitsfall, kein 13. und 14. Lohn, kein bezahlter Urlaub usw. sind ein absolutes No-Go, wenn man Arbeiter_innen beschäftigt! Ansonsten muss man ein solches Projekt halt auf ehrenamtlich organisieren, wenn es kommerziell nicht klappt.
6. Das Gagarin-Kollektiv hatte eine dreitägige Klausur, um interne Hierarchien sowie den in der Gruppe reproduzierten Rassismus und Sexismus zu diskutieren. Warum müsst ihr öffentliche Anschuldigungen erheben, wenn sie sich offensichtlich bemüht haben, an diesen Themen zu arbeiten?
Ursprünglich sollte die Ende 2021 stattgefundene Klausur nur von den Mitgliedern des Kollektivs besucht werden. Da die Atmosphäre im Gagarin aufgrund der zwischenmenschlichen und strukturell rassistischen und sexistischen Mechanismen unerträglich war, bestanden einige der Springer_innen darauf, an der Klausur teilzunehmen. Unsere Genossin war eine von ihnen. Sie sammelte auch Geld, um die Kosten für die Mediation zu decken. Die Arbeiter_innen vom Gagarin diskutierten während dieser Klausur Hierarchien und andere Formen der Unterdrückung. Sie beschlossen, die Unterscheidung von Kollektiv und Springer_innen aufzuheben und die alte Struktur zu ersetzen. Einige Kollektivmitglieder waren jedoch sehr widerwillig gegen diese Entscheidung und boykottierten sie im halbformellen Rahmen der wöchentlichen Kollektivplena. Die Hauptverantwortlichkeiten wurden nicht neu verteilt, sondern blieben bei denselben Personen. Folglich – wie eines der Kollektivmitglieder öffentlich erklärte – „ist die Struktur die gleiche, sie wird nur anders genannt“.
7. Wurde das Geld nicht für ein solidarisches System für die Arbeitnehmer verwendet?
Nur um die Fakten zu erklären: Es gab Elemente der Solidarökonomie im Café Gagarin. Sie waren aber alle sehr intransparent, begrenzt und aufgrund von Hierarchien und ungleichen Machtverhältnissen fühlten sich nicht alle in gleicher Weise berechtigt, diese in Anspruch zu nehmen.
Abgesehen davon finden wir es sehr problematisch, mit einem kaum funktionierenden solidarischen System gegen die gesetzlichen Mindeststandards zu argumentieren. Niemand braucht eine gemeinsame Kasse von ein paar hundert Euro, wenn er die Möglichkeit hat, sich im Krankheitsfall krankschreiben zu lassen.
8. Ich gehe seit 10 Jahren an diesen Ort und ich liebe ihn. Warum wollt ihr ihn zerstören?
Niemand will das Gagarin gefährden. Wir fordern einen Minimalbetrag, der in Angesicht dessen, was möglich wäre, sehr gering ausfällt. Verbrannte Erde wäre ein ganz anderes Kaliber. Wenn wir wollten, würden wir mit einer Forderung von über 30.000 Euro direkt beim Arbeitsgericht antanzen. Aber wir versuchen von Anfang an, eine für alle akzeptable Lösung zu finden. Wir bitten dich daher, es dir noch einmal zu überlegen, ob du mit deinen persönlichen Konsumentscheidungen wirklich den Kampf der Arbeitnehmer für lebenswerte Bedingungen verhindern willst.
9. Sollten wir als Linke uns nicht zusammenschließen, anstatt uns wegen Kleinigkeiten zu spalten?
Das Café Gagarin ist nicht in der gleichen Weise Teil der Linken wie ein soziales Zentrum oder ein selbstorganisierter, nichtkommerzieller kollektiver Raum. Es ist eine kommerzielle Bar, mit Elementen der Solidarwirtschaft und – eher gescheiterten – Versuchen, die Chefs durch eine flache, nicht-hierarchische Struktur der Arbeiter_innenselbstorganisation zu ersetzen. Wir müssen nochmals betonen, dass einige Leute dort arbeiten, um zu überleben, dass sie davon leben! In diesem Zusammenhang finden wir es ziemlich zynisch, ausbeuterische Arbeitsbedingungen als nicht so wichtig zu bezeichnen.
10. Warum habt ihr dem Gagarin nicht mehr Zeit gegeben, um zu reagieren? Was habt ihr vor, wenn das Kollektiv beschließt, die Entschädigung nicht zu zahlen?
Der Zeitrahmen ist nicht besonders eng. Was vielen nicht klar zu sein scheint, ist, dass wir in genau fünf Wochen eine Klage beim Arbeitsgericht einbringen müssen, wenn es bis dahin keine Zahlung gegeben hat. Ist nicht leiwand, aber es ist notwendig, um die Ansprüche überhaupt einbringen zu können, falls sich alle im Gagarin weiterhin auf „nicht nachvollziehbar“ stellen.
Leider hat es bisher trotz gegenteiliger Behauptungen kein „Gesprächsangebot“ von Seiten des Gagarin ans WAS gegeben. Lediglich die Einladung zu einer Steuerberatungskanzlei im 18. Bezirk in drei Wochen, … es scheint, wir müssen das Gespräch also auch weiterhin suchen, …
…und das werden wir auch tun. Wir werden uns konsequent und solidarisch für unsere Genossin einsetzen, auch wenn das Projekt an sich noch so unterstützenswerte Intentionen hatte in der Vergangenheit. Die vielen spontanen Solidarisierungen auf dieser ersten größeren Kundgebung, zum Beispiel von Schweizer Wobblies, geben uns in der Sache recht.
Artikel veröffentlicht am 27. Mai 2022 auf wiensyndikat.wordpress.com. Kopieren mit Quellverweis möglich.
[…] Dieser Artikel auf Deutsch […]
[…] Gagarin FAQ – Deutsch (27.05.2022)Gagarin FAQ – English (27.05.2022) […]